Komisch

Ich wundere mich nur über nationale Unterschiede beim Beleidigt- und Gekränktsein. Wirklich. Mehr nicht.

Mir fallen da einfach Ungleichheiten auf, über die ich nachdenke. Das sollte ja der mündige Bürger tun, oder?

Also: Ich lese heute in der „Sächsischen Zeitung“ ein Interview mit Altbundespräsident Joachim Gauck (S. 2). Zu Wladimir Putin sagt Gauck dort:

„Ich weiß, wozu ein KGB-Typ fähig ist…“ (Offenbar zu entschieden mehr als ein CIA-Typ, aber das jetzt nur nebenbei.) „…Zudem haben wir es mit einem gekränkten Führer und einer gekränkten Nation zu tun, vergleichbar mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Deshalb gingen Putins Beliebtheitswerte nach der Besetzung der Krim in die Höhe. Das Neuerlangen von nationaler Größe ist eine sehr wirksame politische Methode, da scharen sich dann die Anhänger um eine Führungsgestalt.“

Offenbar meint auch Gauck, dass Deutschland nach dem 1. Weltkrieg nachvollziehbar „gekränkt“ war. Ihm wurde im Versailler Vertrag von den Siegermächten die Alleinschuld am Kriegsausbruch zugeschoben, was nachweislich nicht den historischen Fakten entspricht:

„Mittlerweile lautet aber die vorherrschende Meinung unter internationalen Historikern: Alle Kriegsparteien, die von Anfang an dabei waren, tragen eine Teilschuld. Alle hätten sich dem Kriegsausbruch entgegenstellen können, ja ihn sogar verhindern. Dass sie es nicht taten, dass sie einen Krieg in Kauf nahmen, machte folglich alle mitschuldig.“ (Planet-Wissen.de) /1/

Obwohl „Amputationen“ eine mittelalterliche Strafe sind und Deutschland, wie gesagt, gar nicht allein oder hauptsächlich am Ausbruch dieses Krieges schuldig war, wurde ihm von den alliierten Siegermächten 12 Prozent seines Gebietes „abgeschnitten“, insbesondere Westpreußen und Ostoberschlesien, aber auch Elsass-Lothringen mit Straßburg, einer Wiege der deutschen Kultur.

Aber jetzt zum Glück haben wir die Europäische Union, und die Nationen leben in ihr freundschaftlich und brüderlich zusammen. Wie fair und gerecht das ist, sieht man schon daran, dass das Jahrhunderte lange Hin-und-Her um Elsass-Lothringen jetzt endlich einvernehmlich gelöst wurde: Frankreich hat alles bekommen und Deutschland nichts, und jetzt herrscht endlich Völkerfrieden. Ja, weil die Deutschen verzichten, sich abfinden und vergessen können. Welcher Nation etwas gehört, sei ja sowieso egal, weil wir alle im Vereinten Europa leben. Weil das so egal ist, legen die Franzosen großen Wert darauf, dass in Elsass-Lothringen nicht (zu viel) Deutsch gesprochen wird.

Was mich schon immer gewundert hat, ist, dass unsere Eliten wie Gauck Deutschland zubilligen, nach dem 1. Weltkrieg durch den Versailler Vertrag „gekränkt“ worden zu sein. Dass es aber nach dem 2. Weltkrieg durch den Potsdamer Vertrag nochmals Gebietsverluste für Deutschland (Ostpreußen/2/, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien) gab, und zwar noch höhere, diesmal 25 Prozent der schon einmal reduzierten Fläche (insgesamt ca. 34 Prozent), obwohl der 2. Weltkrieg ja auch eine logische Folge des ungerechten Versailler Vertrags war, das wird nicht einmal mehr erwähnt. Es wird aus dem nationalen Gedächtnis gestrichen wie in einer Familie, in der es keiner mehr wagt, über früh verstorbene bzw. aus der Familie zwangsentnommene Kinder zu reden. Tabu.

Darüber wundere ich mich. Wenn es unsere Eliten offenbar nachvollziehen können, dass Putin gekränkt ist, weil Russland als flächenmäßig immer noch größtes Land der Erde, nicht mehr das Kernland einer noch größeren Sowjetunion ist, warum billigen sie dann den Deutschen nicht zu, über ihre eigenen Gebietsverluste zu trauern und der Teile zu gedenken, die einmal zur deutschen Nation gehörten? Die Ungarn machen das mit den Gebieten, die sie im Verlaufe der zwei Weltkriege verloren haben, weil sie sich dummerweise jedes Mal mit Deutschland verbündet hatten. Sie machen das auf nationaler Ebene, was jeder Psychotherapeut einer Familie empfiehlt, die Kinder verloren hat.

Deutschland ist der Hauptfinanzier der EU. Ohne Deutschland wäre sie sofort obsolet. Die weitaus meisten Bürger in der EU sprechen Deutsch als ihre Muttersprache, und sie haben trotzdem in der EU in ihrer Muttersprache nur wenig zu sagen. Sie sollen gefälligst die Sprachen der Kriegssieger lernen und sprechen: Englisch und Französisch. Wie tief kann ein Land kulturell sinken?

Vielleicht ist die tiefste Kränkung die, die gar nicht mehr als eine solche wahrgenommen wird? 

Es kann Generationen dauern, bis verdrängte Kinder wieder im Bewusstsein einer Familie auftauchen. Aber sie werden es oder Menschen hätten keinen Stolz und keine Würde mehr.

 

Fußnoten

/1/  Ich hatte mich dazu auch schon in meiner Antwort auf Metas Beitrag „Deutschland und die Welt (2)“ geäußert.

/2/ Von wo Russland heute dank der westalliierten Großzügigkeit, Königsberg mit Hafen und Umgebung Stalin zu überlassen, einen kurzen und direkten Zugang zur Ostsee bekommen hat. Praktisch für Putin. Erst haben die Westalliierten Russland auf Kosten Deutschlands, sogar seiner Substanz, gestärkt. Jetzt verlangen sie von Deutschland, dass es im Kampf gegen Russland vorangeht. Siehe auch schon „Der ‚freie Westen’…

3 Kommentare zu “Komisch”

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